zweisprachige Ausgabe von Vincent
Hunink,
mit einer Einleitung von Toon Bastiaensen,
Kartoffeldruckverlag,
Speyer 2023
ISBN
978-3-939526-64-3| pb. 64 blz; € 5
Karthago, Anfang
203 n. Chr. Zwei junge Christinnen,
gerade einmal Mitte zwanzig, lassen
sich verhaften: die edle Perpetua und
die einfache Sklavin Felicitas.
Gemeinsam beschließen sie, für ihren
Glauben zu sterben. Nichts und niemand
wird sie aufhalten.
Die Märtyrerakte, die ihre Geschichte
erzählt, ist ein besonderes Dokument,
vor allem wegen des eingefügten
autobiografischen Teils, der noch von
Perpetua selbst verfasst wurde. Der
Text bietet daher die einmalige
Gelegenheit, etwas von dem
frühchristlichen Feuer des Glaubens
ganz unmittelbar zu sehen und in die
Gedanken einer jungen Christin
einzudringen. Darüber hinaus
vermittelt der Text ein bewegendes
Bild von der Hinrichtung der
Märtyrerinnen und ihrer männlichen
Begleiter.
Vincent Hunink (*1962) lehrt
klassisches und frühchristliches
Latein an der Radboud Universität
Nijmegen (NL). Zu seinen jüngsten
Übersetzungen gehören Werke von
Apuleius, Tacitus und Augustinus.
(www.vincenthunink.nl)
Toon Bastiaensen (1928–2009) lehrte
frühchristliches Latein an der Radboud
Universität Nijmegen (NL). Er
veröffentlichte viele einflussreiche
Textausgaben und Studien auf dem
Gebiet der frühchristlichen und
mittelalterlichen lateinischen
Literatur.
FRAGMENT (4)
Dann
sagte mein Bruder zu mir: »Schwester, gnädige
Frau, Sie werden jetzt so sehr geschätzt, dass
Sie um eine Vision bitten können, um zu sehen,
was Ihnen bevorsteht, Passion oder Befreiung.«
Und ich wusste, dass
ich mit dem Herrn sprach, von dem ich schon so
große Gnaden erfahren hatte, und antwortete
zuversichtlich: »Am morgigen Tag werde ich es
dir verkünden.«
Und ich bat darum und
bekam folgendes gezeigt. Ich sehe eine
Bronzeleiter, riesig lang, die bis in den
Himmel reichte. Sie war schmal (nur eine
Person konnte gleichzeitig hinaufsteigen), und
an den Seiten der Leiter waren alle Arten von
Eisenwaffen befestigt. Dort hingen Schwerter,
Lanzen, Haken, Säbel und Wurfspeere. Wenn man
unvorsichtig oder ohne nach oben zu schauen
hinaufstieg, wurde man zerrissen und sein
Fleisch verfing sich an den Waffen. Und unter
der Leiter war eine Schlange, eine riesige,
die es auf diejenigen abgesehen hatte, die
hinaufstiegen; sie wollte sie abschrecken,
damit sie nicht hinaufstiegen.
Zuerst aber ging
Saturus hinauf. Er hatte sich später
freiwillig gemeldet, uns zuliebe, denn er war
es, der uns im Glauben unterrichtet hatte, und
als wir verhaftet wurden, war er nicht da
gewesen. Und er kam oben auf der Leiter an,
drehte sich um und sagte zu mir: »Perpetua,
ich warte auf dich. Aber pass auf, dass die
Schlange dich nicht beißt.« Darauf sagte ich:
»Er wird mir nicht schaden, im Namen von Jesus
Christus!«
Und langsam steckte er
seinen Kopf unter der Leiter hervor, es sah
aus, als hätte er Angst vor mir, und als ob
ich auf die erste Sprosse treten würde, trat
ich auf seinen Kopf und stieg hinauf.
Und ich sah einen
großen Raum, einen Garten, in dessen Mitte ein
Mann mit weißem Haar saß. Er sah aus wie ein
Schafhirte, ein stämmiger Mann, und er melkte
die Schafe. Um ihn herum waren Tausende von
weiß gekleideten Menschen. Und er hob seinen
Kopf, sah mich an und sagte: »Willkommen, mein
Kind!«
Und er rief mich zu
sich und gab mir so etwas wie einen Bissen von
dem Käse, den er gerade machte. Und ich nahm
ihn mit gefalteten Händen und aß ihn, und alle
Umstehenden sagten »Amen«.
Und beim Klang dieser
Stimmen wachte ich auf, immer noch mit dem
Geschmack von etwas Süßem in meinem Mund. Und
ich sagte es sofort meinem Bruder, und wir
verstanden, dass eine Passion im Anmarsch war
und gaben unsere Hoffnungen für die Welt
völlig auf.