Christian Rudolf Raschle, Pestes Harenae, Die Schlangenepisode in Lucans Pharsalia (IX 587-949), (Studien zur klassischen Philologie 130) Peter Lang, Frankfurt am Main 2001; pp. 445; ISBN 3-631-36666-3 Text publiziert in: Mnemosyne 59, 2006, 154-156 Das neunte Buch
von Lukans Bellum Civile gehört mit
einigen spektakulären Szenen, in denen alle drei Hauptfiguren des Epos eine
wichtige Rolle spielen, sicherlich zu den interessantesten Teilen des Gedichts.
Es beginnt mit einer kurzen Szene zur Himmelfahrt des ermordeten Pompeius und
widmet sich anschliessend der Gestalt Catos des Jüngeren, der ein römisches
Heer durch die Wüste Libyens führt. Am Ende begegnet der Leser Julius Caesar während
eines touristischen Besuches in Troja. Namentlich der lange Cato-Abschnitt enthält
einige besondere Passagen, in denen der Dichter mehrere, zum Teil höchst
originelle Variationen epischer Standardelemente darbietet, z.B. einen
Sandsturm, einen Schlangenkatalog und eine ganze Reihe von Opferszenen, in denen
römische Soldaten in grauenhaftester Weise den Tod finden, indem sie Bissen von
Giftschlangen erliegen. Bis vor kurzem gab
es keine modernen Hilfsmittel zu diesem interessanten und abwechlungsreichen
Lukanbuch, vielleicht auf Grund der Länge (1106 Zeilen) oder der Komplexität
mancher Passagen. Glücklicherweise ist dieser Mangel in neuester Zeit durch
nicht weniger als drei Publikationen weitgehend behoben worden. 2001 veröffentlichte
David P. Kubiak eine nützliche Ausgabe mit kurzen Erläuterungen in englischer
Sprache (Bryn Mawr Latin Commentaries). Aus dem deutschsprachigen Raum stammen
zwei grössere Projekte: der Kommentar zur Schlangenepisode von Christian Rudolf
Raschle (R.) aus dem Jahr 2001 (von dem in dieser Rezension weiter die Rede sein
wird) und die 2004 erschienene zweiteilige Ausgabe des ganzen neunten Buches von
Claudia Wick. R.’s Ausgabe ist
eine leicht überarbeitete Fassung seiner 1999 an der Universität Freiburg
(Schweiz) angenommenen Dissertation. Das Buch enthält eine ausführliche
Einleitung (114 S.), Text, Übersetzung und Kommentar der betreffenden 362
Zeilen langen Passage (217 S.), sowie Bibliographie und Indices. In seiner
Einleitung befasst sich R. mit Aufbau und Stellung des neunten Buches innerhalb
des Epos, mit der Hauptfigur Cato (s. 20-59) und mit den Schlangen, die in der
zu kommentierenden Passage im Mittelpunkt stehen. Eine Zusammenfassung und
Wertung sowie ein kurzer Paragraph zum Nachleben bilden hier den Abschluss. Der
gedruckte Text beruht auf bestehenden Ausgaben (Shackleton Bailey, Badalì); ein
kurzes Verzeichnis der abweichenden Stellen ist ihm vorangestellt. Die deutsche
Prosaübersetzung, mit hilfreichen Überschriften versehen, wirkt anspruchslos
und will dem Leser nur den Zugang zum lateinischen Originaltext erleichtern.
Gleichzeitig entlastet sie aber auch den Kommentar, insofern sie als erster
Schritt zur Interpretation des Textes gelten kann. Im Kommentarteil
erweist R. sich als ein kompetenter Interpret, der mit Vorsicht und einem guten
Gefühl für Nuancierungen sowohl grössere Abschnitte wie auch einzelne Zeilen
und Worte erläutert. Selbstverständlich enthalten die Lemmata viel Sachliches,
wie z.B. Einzelheiten zu den genannten Giftschlangen und zur Auswirkung ihrer
Bisse, wie auch manche Parallelstellen. Andererseits hat R. auch ein sicheres
Auge für die literarischen und rhetorischen Hauptsachen. So ist nicht nur die
Rede von zoologischen und medizinischen Hintergründen zu den Schlangenpassagen,
sondern werden z.B. auch die künstlerische Funktion des ‘Grauens’, die
ovidianisch anmutenden ‘Metamorphosen’ der vergifteten Opfer und die
sonderbaren Gleichnisse erhellt. Anders als manche
Andere (wie z.B. Claudia Wick), setzt R. sich ausdrücklich mit der neueren
angelsächsischen Lukanliteratur auseinander, die dem römischen Dichter gewisse
radikale Absichten zuschreibt. So wird Lukans Cato von einigen Gelehrten nicht,
wie früher üblich, als exemplarische Verkörperung der virtus, sondern eher als Symbol für das Fiasko der stoischen
Philosophie angesichts der Schrecken des Bürgerkriegs und als eine reine
Parodie der alten, verlorenen, republikanischen
Werten gedeutet. R. geht dieser Diskussion nicht aus dem Weg und bespricht die
neuen Ansichten, sowohl in seiner Einleitung als an vielen Stellen des
Kommentars. Seine eigene Position, so stellt sich dabei heraus, ist eher zurückhaltend:
Lukans Cato weise gewiss einige merkwürdige, rhetorisch stark übertriebene Züge
auf, aber eine kritische, allegorische Deutung seiner Person und der ganzen
Schlangenepisode sei letztendlich nicht haltbar. Cato, so R., wird nicht mehr
dargestellt als Mensch und Heerführer, sondern er wird vielmehr zu einem
abstrakten Prinzip der virtus, der
gegen die Macht der Fortuna, den Willen der Götter und die Zerstörung der Welt
aufbegehrt. In der Debatte
zwischen (angelsächsischen) Modernisten und (Deutsch-Italienischen)
Traditionalisten in der neueren Lukanforschung steht R. somit auf Seiten der
zweiten Gruppe. Dabei hat er allerdings ernsthaft versucht, sich mit den
postmodernen Fragen auseinanderzusetzen, was nicht von allen betroffenen
Gelehrten gesagt werden kann. Inzwischen kann
man sich übrigens fragen, in wiefern R. mit seiner herkömmlichen Sehensweise
(Cato als reinste Verkörperung der altrömischen virtus)
nicht genauso eine allegorische Gesamtdeutung vertritt, wie seine Opponenten
(vor allem Leigh und Bartsch) es tun, sei es mit einer anderen, positiven
Wertung. Im Endeffekt wird die Beurteilung des lukanischen Catos wohl eine Sache
der Gefühle und des Geschmacks bleiben. Der strenge Römer kann anscheinend
sowohl als leuchtendes Beispiel von Tugendhaftigkeit wie auch als Beweis der Lächerlichkeit
aller alten Werte gelten, je nach der Grundhaltung des Interpreten . Wie immer man auch zu diesen Hauptfragen steht, R.’s Kommentar erweist sich als eine hilfreiche, übersichtliche Informationsquelle und als ein guter Lesebegleiter. Lukans Schlangenepisode, wohl ein absoluter literarischer Höhepunkt im Epos der Flavierzeit, wird mit diesem Kommentar für eine ziemlich breite Lesergruppe erschlossen. Das Buch wird daher dem akademischen Unterricht sicherlich dienlich sein und vielen Lukanlesern willkommene Hilfe leisten. Die am Anfang kurz erwähnte, neue Gesamtausgabe des neunten Buches von Claudia Wick richtet sich mit ihrem deutlich detaillierteren Kommentar wohl eher auf ein Publikum von Lukanforschern, vor allem der ‘traditionellen’ Gruppe.
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